Am 12. Januar 2017 haben wir das neue Kapitel21-Jahr mit einem Besuch der Ausstellung Things to Come in der Deutschen Kinemathek begrüßt. Souverän geführt wandelten ungefähr 20 fertige und werdende Zukunftsforscher*innen durch futuristische Räume, in denen uns filmische Zukünfte aus vergangenen Zeiten begrüßten. Drei thematische Welten erlebten wir: den Weltraum, die Gesellschaft der Zukunft und das Fremde. Spannend, wie sich gemeinsame Elemente und Vorstellung über Jahrzehnte und zahlreiche Zukunftsfilme hinweg erhalten; niedlich, wenn man die Visionen der ersten SciFi-Regisseure und den Blick hinter die Kulisse, auf ihre Umsetzungen werfen darf; begeisternd, wie die technischen Möglichkeiten, zunehmend erstaunlichere Effekte erlauben; verstörend, wenn manche Filmkreatur plötzlich genau vor einem steht.
Unsere einhellige Zukunftsexpert*innen-Meinung: Diese Ausstellung ist einen Besuch wert – und das noch bis zum 30. April 2017!
Ein Neujahrsempfang, der sich der Dystopie widmet – oder dem, was der Künstler, der die Werkreihe schafft, darunter fasst. Einen besseren Start ins neue Kapitel21-Jahr könnte es kaum geben, dachte sich der Vorstand und lud deshalb am Freitag, den 8. Januar, alle Mitglieder und Interessierten in die kleine Galerie cubus-m im „Kunstkiez“ rund um die Potsdamer Straße.
Kompetent vom Galeristen geleitet und mit offenen Augen für mögliche Verbindungen zwischen Kunst und Zukunftsforschung erlebten wir die Ausstellung „Dytopia/Fugen“ des in Kiel lebenden Künstlers René Schoemakers. Seine Kunst beschreibt cubus-m auf ihrer Homepage als „beinahe altmeisterlichen, präzise naturalistischen Stil, gleichzeitig jedoch sind seine Werke stets im konzeptuellen Sinne miteinander verbunden. Sie bilden gedankliche und visuelle Zusammenhänge, lösen dabei aber klassische narrative Strukturen oder repräsentative Absichten im Sinne des Naturalismus komplett auf“. Wiederkehrende Motive, Symbole, ideen- und kunstgeschichtliche Anleihen, die Inszenierung der eigenen Person, Frau und Töchter – ein Gesamtwerk, auf das sich selbst einen Reim machen muss, wer es betrachtet. Des Rätsels Lösung scheint es nicht zu geben, stellen wir fest.
Da wir unseren Besuch schon im Vorhinein angekündigt hatten, hatten wir das Glück, dass René Schoemakers selbst sogar ein paar Worte zu seinem künstlerischen Ansatz, dem Verhältnis von Kunst und Zukunftswissenschaft, wie er es (nicht) sieht und einen Buchtipp zu erhalten. Diese wollen wir allen, die nicht kommen konnten, natürlich nicht vorenthalten:
Schoemakers über seine Arbeit
„Meine Arbeiten handeln im Grunde genommen alle von der Leibgebundenheit und einem tiefen Misstrauen gegenüber jeder Art von Überzeugungssystemen. Natürlich auch gegenüber dem Überzeugungssystem, das misstrauisch ist gegenüber allen Überzeugungssystemen.
Vielleicht kann man es so auf den Punkt bringen: mich interessiert die extreme Spannung zwischen konkreter leibgebundener individueller Existenz und jeder Form von allgemeiner systematischer begrifflicher Ordnung, also Glaubenssysteme, Theorien, politische Ordnungen, gesellschaftliche Formationen. Meine Arbeit ist extrem materialistisch und idealistisch zugleich. Mich interessieren die extremen Pole; also das Sinnliche und das Intellektuelle auf die Spitze zu treiben, um den Betrachter in jedem Fall zu überfordern. Für Wohlfühl-Oasen und Wellness-Lounges gängiger Sinnangebote und wohldosierter Verstörung müssen andere sorgen.
Ich bin nur Pippi Langstrumpf: Ich mach, was mir gefällt.“
Schoemakers über das Verhältnis von Kunst und Zukunftswissenschaften
„Eigentlich passt die Arbeitsweise des Künstler systematisch nicht in das Konzept einer Wissenschaft, die versucht zu beschreiben, wie zukünftige Zustände aussehen mögen bzw. wie sich intendierte zukünftige Weltzustände realisieren lassen.
Der Künstler ist bei seinem Tun systematisch desinteressiert an der Zukunft “seines Werkes” als Gegenstand prospektiver Erkenntnis. Das Werk ist das Werk, das sich ergeben haben wird, wenn es vollendet ist. Insofern lauert der Künstler schon auf das Ergebnis seiner Bemühungen, aber das Ergebnis seines Tuns ist nicht die Werkgestalt, die sich möglicherweise in der Zukunft realisiert haben wird aufgrund seines planenden Tuns, sondern aufgrund der vielen größeren und kleineren Abweichungen von seinen Vorstellungen, die er sich begleitend während des Werkprozesses macht.
Der Künstler ist süchtig nach freudigen Enttäuschungen seiner Erwartungen.
Und radikal offen für das, was entsteht.
Insofern ist er nur schwer in Dienst zu nehmen für das Ausspähen und Zurechtmodeln der Zukunft. Die Zukunft möge kommen und überraschend sein. Natürlich will der Künstler sich auch keineswegs nützlich machen. Das wäre das Ende der Kunst. Und der Anfang der Dienstleistung.“
Schoemakers Buchtipp für Zukunftsforscher*innen
„Pflichtlektüre für Futurologen: Thomas Mann – Joseph und seine Brüder. Alle Bände.
Nicht jetzt wegen des nichtlinearen, zyklischen Zeitverständnisses (“Einst” – als doppelgesichtiger Begriff), sondern wegen der Beschreibung lässiger selbstreflexiver Gestaltung von Gegenwart und Zukunft aus dem Geist der Vergangenheit, die Zukunft immer schon in sich trägt. Man muss sie nur lesen und Wirklichkeit werden lassen.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – aus dem wir gegenwärtig das Wasser zum Bestellen zukünftiger Felder und Ernten ziehen.“
Und welche Zusammenhänge, Implikationen und „Nützlichkeiten“ können wir aus den Arbeiten ziehen? Vielleicht, dass gerade uneindeutige Motive kreative Denkräume öffnen können. Vielleicht dass es im Verhältnis von Kunst und Zukunftsforschung nicht darum geht, sie nutzbar zu machen, sondern Inspiration zuzulassen, die sich nicht in überprüfbare Ergebnisse übersetzen lässt. Vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Ein Teil der Gruppe diskutierte diese Fragen in einer Bar um die Ecke weiter. Der andere Teil ging mit Gedanken nach Hause, die sich schon irgendwo zwischen Leib und Denksystem festgesetzt haben werden.